Aus Sicht der Psychologie ist es klar: Es ist viel wahrscheinlicher, dass Menschen sich missverstehen, als dass sie wirklich im gleichen Boot sitzen und in die gleiche Richtung rudern. »Wir verstehen uns doch« ist häufig eine Illusion. Echtes Verstehen zwischen Menschen ist sehr voraussetzungsreich und nicht selbstverständlich.
Aber wie ist es überhaupt möglich, sich wirklich zu verstehen?
Verstehen oder Nicht-Verstehen – das ist die entscheidende Frage
Das Konzept der Mentalisierung
Eine Antwort auf diese zentrale Frage gibt das Konzept der Mentalisierung, eine wegweisende Innovation aus der zeitgenössischen Psychoanalyse und der empirischen Entwicklungspsychologie.
Allgemein gesprochen meint Mentalisierung die – meist vorbewusste – Fähigkeit, Gedanken und Gefühle im eigenen Selbst wie auch in anderen zu verstehen und sinnvoll zu interpretieren. Wenn ich mentalisiere, verstehe ich, welche Gedanken und Gefühle mein Gegenüber dazu motivieren, so zu handeln, wie er oder sie handelt. Was so einfach klingt, ist im Alltag aber längst nicht selbstverständlich.
Gerade in der Hektik des Berufsalltags geht die Fähigkeit zur Mentalisierung immer wieder verloren. Beispiele für Nicht-Mentalisieren sind Formulierungen wie »Das müssen Sie doch wissen, Sie sind doch der Fachmann!« oder »Keine Ahnung, warum das so nicht funktioniert – die Kundin war aber immer schon etwas schwierig« oder »Der Chef sagt heute Hü und morgen Hott – ich mach das jetzt einfach mal so, wie wir das immer schon gemacht haben«. In all diesen Beispielen fehlt der Perspektivwechsel, und ein echtes Verstehen für die innere Gedankenwelt des Gegenübers wird verhindert.
Die Fähigkeit, sich selbst und andere sinnhaft interpretieren zu können, ist ein Schlüssel für psychische Gesundheit und ein maßgeblicher Faktor für echte Veränderungen in Beratung und Therapie.
Die gute Nachricht: Echtes Mentalisieren kann ich entwickeln und trainieren. Eine Voraussetzung dafür ist, nicht nur auf das gesprochene Wort zu achten, sondern insbesondere auch auf Gefühle und innere Wahrnehmungen zu fokussieren. Oft fühle ich viel deutlicher, was in meinem Gegenüber vorgeht, als es auf der verbalen Ebene zum Ausdruck kommt. Und wenn es mir dann gelingt, eine Frage zu formulieren oder eine einfühlsame Beoabachtung zu äußern, komme ich dem echten Verstehen einen entscheidenden Schritt näher.